Historisch

Der Kappengang, der Kinderbischof, das Narrenfest, die Esselmesse

Im Diözesanmuseum befinden sich zwei Bilder, welche der Dombenefiziat Gleseker im Jahre 1755 gemalt hat, Sie geben Kunde von einem alten Brauch, dem „Kappengang“. Das eine der Bilder zeigt einen eigenartigen Umzug auf dem Marktplatz vor dem Dom, das zweite den Schlussakt auf dem Kleinen Domplatz. Von diesem auf den Bildern dargestellten Brauch erzählen im 17 Jahrhundert fast jährlich auch die Protokolle des Paderborner Domkapitels. Ferner berichtet darüber der Dombenefiziat Theodor Heinrich Malberg, der selbst den Kappengang leitete, in seinem Tagebuch.

Die von Musik und Gesang begleiteten Umzüge bewegten durch die Straßen der Stadt. Voran schritten die beiden Stabträger des Domes, denen der Rektor der Domschule mit einigen seiner Schüler folgte, Zwei von ihnen trugen als Fackeln lange mit Wachs bewickelte Stangen, zwei andere, die Allelujanten (Knaben, die beim Chorgebet das Alleluja sangen), trugen die bischöfliche Kopfbedeckung, die Mitra. Ein Knabe war wie ein richtiger Bischof verkleidet. Ihm folgte der Stadttrommler mit zwei Trompetern. Auf diese folgte ein Bannerträger, der eine große seidene Fahne trug. Diese zeigte auf der einen Seite die Darstellung der drei Patrone des Domes, Maria, Kilian und Liborius. Auf der andern Seite waren die Ahnenwappen des jüngsten Domherrn gemalt. Hinter dem Banner schritt der Leiter des Umzuges, einer der Dombenefiziaten, „Bannerführer“ genannt. Das Zeigen dieses Banners war der Hauptzweck des Umzuges, der darum vom Volksmund einfach als „Bannerfliegen“ bezeichnet wurde. Es folgten die Lehrer und weiteren Schüler der Dornschule, Choralisten, die Domküster und sonstige Angestellte des Domkapitels. Diesem Zug schloss sich in gleicher Weise das Kollegialstift Busdorf an, auch mit Stabträgern, den Leitern und den Schülern der Busdorfschule, von denen einer ebenfalls als Bischof gekleidet war. Auch der Busdorf führte ein Banner mit, das des jüngsten Kanonikers des Stiftes. Bannerführer, Lehrer, Küster und Angestellte des Stiftes folgten. Die Jugend Paderborns begleitete diese Umzüge in hellen Scharen. Oft scheint es dabei recht stürmisch hergegangen zu sein.

Der Kappengang

Den Höhepunkt der Umzüge bildete unstreitig der Abschluss am letzten Abend, wo der Zug auf dem Kleinen Domplatz endete. Hier war mit zwei Teertonnen und einer Menge Stroh ein riesiges Feuer angezündet, bei dem, wie Malberg schreibt, die Trommeln und Trompeten im Beisein vieler Menschen, besonders Kindern, sich hören ließen. Nach dem Umzug fand ein Abendschmaus statt, zu dem auch die Stadtobrigkeit eingeladen wurde.

Wann dieser eigenartige Brauch des Kappenganges in Paderborn aufkam, ist nicht bekannt. Nach einer Urkunde von 1567 war er damals schon lange im Gebrauch.

Der Kappengang

Die Bezeichnung des „Kappenganges“ geht zurück auf das Mittelalter. Zur rechten Deutung des Kappenganges führen folgende Überlegungen Den Kinder war bereits schon im Mittelalter ein besonderer Tag gewidmet. An einem dieser Tage gehört ihr das Reich ganz. allein, sie führte an Stelle Erwachsenen das Regiment. In den Klosterschulen wurde an diesen Tagen die Ordnung umgekehrt: Ein Knabe leitet als Abt die Gemeinschaft, auch alle andern Posten waren an Kinder verteilt. Die Kinder spielten die Rollen der Erwachsenen, diese gehorchten den Kindern.

Sogar bis in den kirchlichen, ja in den liturgischen Raum hinein wurde damit Ernst gemacht. Wenn hei der ersten Vesper des Tages der Vers des Magnificat gesungen wurde: „Deposuit potentes de sede et exaltavit humeles“ (die Mächtigen stürzt er vom Throne und erhöht die Niedrigen), verließen der Abt und die andern Würdenträger ihre bevorzugten Plätze im Chor, Kinder aus der Klosterschule traten an ihre Steile und führten die Vesper zu Ende. Sie behielten diese Plätze auch beim Gottesdienst am folgenden Festtage Im Hause hatten sie allein zu sagen, die Erwachsenen ihnen zu folgen. Von den Klosterschulen dehnte sich dieser Brauch auf die Dom- und Stiftsschulen aus, indem hier sogar ein Kinderbischof die Leitung für einen Tag übernahm und wie ein Bischof gekleidet und geehrt wurde. Im Mainz z. B. musste er dem Erzbischof, der zugleich Kurfürst war, einen Besuch machen und wurde von diesem reich beschenke.

Die Entstehung; dieses Bischofsspieles der Jugend geht auf Nordfrankreich zurück und ist seit dem ’12. Jahrhundert nachzuweisen – Seinen Ursprung hat es in dem Mittelalterlichen Narrenfest, das wiederum aus den römischen Saturnalien, den keltischen Tiervermummungen und den orientalischen Narren-Königsfest entstanden war. Wie leicht erklärlich, brachte dieses um Neujahr gefeierte Narrenfest so schlimme Ausartungen mit sich, das man die Kinder von ihm fernhielt. Man gab ihnen ihr eigenes Fest und legte dieses in die Nähe des Erwachsenen-Narrenfestes, also um Neujahr herum.

Als unter Kaiser Konstantin im Jahr 343 das Christentum zur Staatsreligion erklärt wurde, standen die Römer vor einer ganz neuen Herausforderung. Die alten Bräuche und Sitten, die mit der Anbetung heidnischer Götter zusammenhingen, ließen sich nicht einfach beseitigen. Vieles wurde deshalb in den christlichen Kontext übernommen und integriert. Dazu gehörte auch der keltisch-germanische Brauch zur Vertreibung böser Winterdämonen im Frühjahr. Zu dem Zweck der Vertreibung verkleidete man sich mit Masken der Fruchtbarkeitsgottheiten Bock, Hirsch und Bär.

Dieser Brauch wurde in die christliche Liturgie eingegliedert und zeitlich genau vor den Beginn der Fastenzeit gestellt. Damit blieben die heidnischen Masken und Verkleidungen zwar erhalten, der Sinn und die symbolische Bedeutung aber wurde den christlichen Bedürfnissen angepasst. Die Fastnacht war entstanden.

Fastnacht, wie der Name schon sagt, bezeichnet ursprünglich den Abend vor dem Beginn der Fastenzeit. Später wurde daraus der Zeitraum von Donnerstag bis Aschermittwoch. Die Bedeutung der Fastnacht im christlichen Kontext ist auf das Zwei-Staaten-Modell des Augustinus zurückzuführen. Augustinus unterscheidet zwischen der civitas diaboli, dem Staat des Teufels, und der civitas dei, dem Gottesstaat.

Die Fastnacht stand symbolisch für die Herrschaft des Teufels. Ihre wilden Feiern und ausschweifenden Gelage wurden von der Kirche als mahnendes Negativbeispiel geduldet. Mit dem Aschermittwoch endete dann diese sündenvolle Zeit und der Staat Gottes hielt wieder Einzug, der nun mit dem reuigen Akt des Fastens begrüßt wurde. So symbolisieren diese zwei Zeiträume gemeinsam den Kreislauf von Sünde, Reue und Vergebung.

Entsprechend ist auch die Strenge der Kirche zu deuten, die ein Weiterfeiern über den Aschermittwoch hinaus streng verbot.

Die Figur des Narren weist auf die Vergänglichkeit des menschlichen Treibens hin. Im mittelalterlichen Europa feierte man deshalb sogenannte Narrenfeste. Diese waren zwar nicht offiziell kirchlich, wurden aber in Kirchen und Klöstern veranstaltet. Auch hier stand eine Gleichheitsidee im Mittelpunkt, unterprivilegierte Kleriker übernahmen für kurze Zeit den Rang der höheren Geistlichkeit. Parallelen zu den Saturalien und sogar den Feiern des Gudea sind offensichtlich.

Zu den üblichen Parodien der kirchlichen Rituale gehörte damals das Ausrichten einer ‚Eselsmesse‘. Dabei wurde ein ‚Narrenpapst‘ oder ‚Narrenbischof‘ gewählt, der dann verkleidet auf einem Esel in die Kirche geritten kam. Diesem wurde dann unter lautem Zurufen Lob ausgesprochen und danach ein regulärer Gottesdienst gehalten.

Ein weiterer karnevalistischer Brauch waren von religiösen Bruderschaften organisierte Figuralprozessionen. Während dieser Umzüge verkleideten sich Männer in Frauenkleidern. Innerhalb der offiziellen Kirche gab es sowohl vehemente Kritiker dieses Brauches, als auch Befürworter. Ganz verboten werden konnten diese Veranstaltungen deshalb immer nur temporär, gänzlich jedoch nie.

Den ständigen Widerstreit zwischen weltlichem Treiben und den Vorstellungen der hohen Geistlichkeit erkennt man gut in einem Schreiben der Diözesansynode von 1662: ‚Die weltliche Leichtfertigkeit törichter Menschen hat sich eingeschlichen und es werden sogar weltliche und lächerliche Spiele mit großem Lärm aufgeführt, und als ob man zum kämpfe zöge, werden Pauken geschlagen und kurzweilige Schaustücke zum Besten gegeben.‘

Die Befürworter hingegen sagten folgendes: ‚Unsere Vorfahren waren große und ehrwürdige Männer. Diese haben das Narrenfest aus weisen Gründen eingesetzt. Lasst uns leben wie sie und dann auch tun, was sie taten. Wir feiern das Narrenfest, um uns zu ergötzen, damit die Narretei, die uns angeboren ist, wenigstens einmal im Jahre recht ausbrechen könne. Fässer mit Wein würden springen, wenn man ihnen nicht von Zeit zu Zeit Luft ließe.‘

Die Reformation schaffte die vorösterliche Fastenzeit für den protestantischen Teil der Christenheit ab. In diesem Zusammenhang verlor auch die Fastnacht ihren Sinn. Die fastnächtlichen Bräuche überlebten fast nur in den katholisch geprägten Gebieten.

Wenn sich nun in Paderborn bis 1761 die oben beschriebenen Umzüge nachweisen lassen, so ist wohl nicht zu gewagt auch im Paderborner Kappengang einen Rest des mittelalterlichen Bischofspieles der Jugend zu sehen bzw des Narrenfestes. 1761 erlebte Paderborn diesen Umzug und das Bischofspiel zum letzten Male. Im folgenden Jahr unterblieb es, angeblich, weil das Banner nicht rechtzeitig bestellt war und damals der siebenjährige Krieg tobte. Das waren aber nur äußere nicht entscheidende Gründe Die Hauptursache lag tiefer: Es war die Zeit des Rationalismus, der kein Verständnis mehr aufbrachte für alt überlieferte Brauchtümer. Gelegentliche Exzesse beim Kappengang waren der Obrigkeit ein willkommener Anlass, den Brauch in Bausch und Bogen abzuschaffen.

(Auszug aus „Paderborn, die alte Stadt“)

Die erste urkundliche Erwähnung des Bischofsspiels und eines Umzug mit einem als „Bischof“ verkleideten Kind in Paderborn geht auf das Jahr 1567 zurück!